„Wer das helfende Wort in sich aufruft, erfährt das Wort, wer Halt gewährt, verstärkt in sich den Halt, wer Trost spendet, vertieft in sich den Trost, wer Heil wirkt, dem offenbart sich das Heil.“ (Martin Buber)
Seit dem Frühsommer konzentrieren sich die Blogbeiträge auf den Menschen als soziales Wesen, der (neue) Erkenntnisse in Gemeinschaft sucht und finden kann. Die beiden abschließenden Beiträge – September und Oktober – stellen eine besondere Form der Heilung durch Gemeinschaft und das (Inter-)Agieren mit anderen dar: Hilfs-Ich und Hilfs-Wir.
In Therapiesettings, die ausschließlich mit der Therapeutin, dem Therapeuten stattfinden, können die Therapierenden sog. Hilfs-Ich-Funktionen übernehmen. Das „Hilfs-Ich“ ist ein Begriff aus dem Psychodrama, den Moreno nicht nur „zu den elementaren Instrumenten des Psychodramas“ (Kolmorgen/Spitzer-Prochazka, 2021, 1) zählt, sondern der von ihm geprägt wurde und „gewöhnlich […] eine Person definiert, die einen Abwesenden darstellt; im Sinne des Wirklichkeits-Mehrwerts kann sie sich über Einschränkungen durch Geschlecht, Alter und Tod hinwegsetzen. Im Psychodrama kann ein Mann eine Frau spielen und umgekehrt. Es gibt kein Geschlecht im Psychodrama. Ein alter Mann kann ein Kind darstellen, ein Kind einen Greis. Es gibt kein Alter im Psychodrama. Ein Toter kann ins Leben zurückgerufen werden. Es gibt keinen Tod im Psychodrama. Das Psychodrama bedeutet die Rückkehr der Magie in die Wissenschaft. Es setzt quasi den ganzen Kosmos in Szene.“ (Moreno, 1974, zit. nach Hutter & Schwehm, 2012, S. 135) Damit „ermöglichen es die Hilfs-Iche dem oder der ProtagonistIn, seine oder ihre innere Welt auf eine äußere Bühne zu bringen. Die MitspielerInnen helfen diesem Ich, sich besser zu verstehen und neue Erkenntnisse zu gewinnen.“ (Buckel, 2021, 8)
In der Praxis ist die Intensität, mit der eine Hilfs-Ich-Funktion eingesetzt wird, vom Kontext abhängig. „Insbesondere bei Patienten, die massive Beziehungsschwierigkeiten im Rahmen einer Persönlichkeitsstörung mitbringen, beteiligt sich der Gruppenleiter sehr aktiv und bietet sich als […] ‚Hilfs-Ich‘ an. Indem sich der Patient mit seinem Behandler identifiziert, soll er lernen, Situationen besser zu durchschauen und auf Dauer günstiger auf sie zu reagieren.“ (Strauss, 2017, 72) Hilfs-Iche (Anm.: von Moreno empfohlene Pluralform) werden von den Therapierenden und Teilnehmenden „im Rahmen eines psychodramatischen Spiels ausgewählt“, wobei sie „alle erdenklichen Rollen übernehmen können“ (Kolmorgen/Prochazka, 2021, 1). Damit verkörpern Hilfs-Iche „für Protagonisten soziale Rollen, innere Anteile, Personen, Emotionen etc., um die Bearbeitung eines Konfliktes zu unterstützen“ (Mingers/Schaul, 2021, 24).
Das Hilfs-Ich wird bei Gruppentherapien zu einem Hilfs-Wir, das den Menschen, der – wie im Junibeschrieben – als soziales Wesen danach strebt, Verbundenheit zu spüren, genau dort abholen kann, wo es individuell nötig ist. Hier nehmen die Gruppenteilnehmerinnen und -teilnehmer eine ähnliche Position wie jene des Hilfs-Ich ein, denn ein Hilfs-Ich hat grundsätzlich drei Aufgaben: Realitätsprüfung, Antizipation und Integration. Buckel (2021, 7) fasst den Vorgang in Gruppen prägnant zusammen, indem er darstellt, „wie das Hilfs-Wir […] dazu beitragen kann, Gruppen von einem problemorientierten in einen lösungsorientierten Modus zu führen“.
Betrachten wir das Setting einer Gruppentherapie, sehen wir: Hier kommen grundsätzlich Menschen zusammen, die mit ähnlichen Problemen konfrontiert sind, aber erst in dieser Situation bemerken, dass andere Menschen Vergleichbares empfinden. Ganz nach der Redensart „Geteiltes Leid ist halbes Leid“ kann das Wissen, mit Belastendem nicht mehr allein zu sein, entlasten, und man selbst erkennt, dass die eigenen Erfahrungen anderen weiterhelfen und diese wiederum entlasten können. Hierbei sind bereits unterschiedliche Schritte auf dem Weg zur Heilung gegangen und erkennbar.
Buckel (2021, 12) benennt zwei wesentliche Aspekte des Hilfs-Wir, die im gruppentherapeutischen Setting zu einem Richtungswechsel und damit weg von Problemorientierung, hin zu Lösungsorientierung führen:
- Ich entscheide mich zu helfen. Ich überlasse den oder die Andere/n eben nicht seinem oder ihrem Schicksal. Ich stehe auf und strecke die Hand aus bzw. betrete die Bühne.
- Ich verlasse meine individuelle – egoistische – Perspektive und nehme das Gemeinsame, das Wir in den Fokus.
Damit wird die grundsätzliche Möglichkeit der Gruppentherapie erweitert, und (belastende) Erfahrungen können nachgezeichnet und in korrigierender Form noch einmal erlebt werden, worauf im Oktober weiterführend eingegangen wird.
Falls Sie Fragen haben, melden Sie sich gern!
Literatur:
Buckel, C. (2021): Gemeinsam soziale Komplexität erforschen. Das Hilfs-Wir als Hauptinstrument im Soziodrama. In: Zeitschrift für Psychodrama und Soziometrie. Themenschwerpunkt: Hilfs-Ich. 01/21.
http://ist.or.at/userfiles/image/Unterholzer%20IST%20Hoffnung%20Gruppentherapie.pdf
Kolmorgen K., Spitzer-Prochazka S. (2021): Vorwort. In: Zeitschrift für Psychodrama und Soziometrie. Themenschwerpunkt: Hilfs-Ich. 01/21.
Mingers D., Schaul H. (2021): Hilfs-Ich Funktion in der psychodramatischen Familienspieltherapie. Im Dienste der Familie. In: In: Zeitschrift für Psychodrama und Soziometrie. Themenschwerpunkt: Hilfs-Ich. 01/21.
Strauss B. (2017): Geteiltes Leid. In: Gehirn &Geist 08/17.
Yalom I. (2010): Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie. Ein Lehrbuch. Klett-Cotta, Stuttgart.
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