Nachdem ich in meinen letzten Beiträgen darauf eingegangen bin, wie sehr uns die (übermäßige) Nutzung mobiler und digitaler Endgeräte unter Druck setzen und tatsächlich krank machen kann und wie bedeutsam und heilsam es für uns alle wäre, mehr Zeit in der Natur zu verbringen, beschäftige ich mich diesmal damit, wie und wodurch geheilt werden kann, wenn (auch bedingt durch gegenwärtigen gesellschaftlichen Stress) Belastungssituationen oder/und seelische Krankheiten bereits aufgetreten sind.
Im März habe ich den Biologen und Naturphilosophen Andreas Weber zitiert, der starke Kritik daran übt, dass Eltern ihre Kinder zu selten in der Natur einfach „sein lassen“. Weber stellt außerdem folgende These an: „Mit derselben Schnelligkeit, mit der die Wildnis aus der Psyche unserer Kinder schwindet, steigt die Häufigkeit ihrer seelischen Krankheiten. So leidet in Deutschland nach Untersuchungen des Robert-Koch-Instituts jeder fünfte Teenager zwischen elf und 17 Jahren an einer Essstörung, quälen sich zehn Prozent unserer Kinder mit Symptomen des Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts-Syndroms ADHS durch die Schule. Diese Leiden werden aber kaum mit einer erhöhten Dosis von Selbstbestimmung therapiert, sondern vornehmlich durch Medikamente: Von 2005 bis 2008 stieg die Zahl der Verschreibungen des ADHS-Mittels Ritalin um ein Viertel.“ (GEO) Doch Medikamente stellen tatsächlich nicht die einzige Therapiemöglichkeit dar, sondern das Potenzial, das uns die Therapieform der „Naturtherapie“ bzw. „Ökotherapie“ nicht nur bei der Behandlung derartiger Krankheiten und Auffälligkeiten bietet, ist beachtens- und deshalb besonders erwähnenswert.
Von Ökotherapie oder Naturtherapie unterschieden werden muss die „Systemische Naturtherapie“, die aus Ansätzen von systemischer Therapie und Erlebnistherapie bzw. Experientialism (Ruth Cohn) entstanden ist und von Astrid Habiba Kreszmeier und Hans-Peter Hufenus begründet wurde. Die Systemische Naturtherapie meint eine „psychotherapeutisch[e] Prozessgestaltung in der Natur, mit der oder durch die Natur. […] In ihr fließen Erkenntnisse und Erfahrungen aus drei großen Quellen zusammen: aus systemischen Schulen, erlebnistherapeutischen Verfahren und spirituellen Naturkosmologien.“ (Kreszmeier 2011, S. 10) Auf Therapiemethoden der Systemischen Naturtherapie werde ich in einem der nächsten Beiträge näher eingehen.
Im Gegensatz zur Systemischen Naturtherapie beginnt Ökotherapie genau dort, wo Natur anfängt – auch ohne TherapeutInnen. Das Sein in der Natur wird zur Therapie, besondere psychotherapeutische Interventionen sind zwar nicht notwendig, sie können allerdings befruchtend und selbstverständlich unterstützend wirken. Dass Ökotherapie eine klinisch wirkungsvolle Methode sei, welche ÄrztInnen viel häufiger neben Psychopharmaka verschreiben sollten, stellten WissenschafterInnen der Universität Essex bereits im Jahr 2007 anhand einer Studie fest. Dabei konnte belegt werden, dass ein schlichter, lediglich fünfminütiger Spaziergang im Grünen bei 71 % der StudienteilnehmerInnen tatsächlich wirksam gegen Depressionen war und das Selbstwertgefühl steigerte. Der Gang durchs Einkaufszentrum, den eine Vergleichsgruppe absolvierte, nutzte hingegen nichts – es ist also nicht das Gehen, das heilsam wirkt, sondern die Bewegung in der Natur. Das Tanken des „Sonnenvitamins“ Vitamin D trägt außerdem seinen Teil dazu bei, dass man sich besser fühlt. (Vgl. Bovers & Paxmann, 2008, o. S. sowie Arztol)
Doch nicht nur für die menschliche Psyche sind die Effekte des „Arzneimittels“ Natur von Bedeutung. So untersuchten der Wissenschaftler Peter James und ein Team der Harvard University und des Brigham Women’s Hospital über eine Zeitspanne von acht Jahren über 100.000 Frauen hinsichtlich eines Zusammenhangs zwischen Naturverbundenheit und Sterblichkeitsrate. Die Ergebnisse: „Im Laufe der Langzeitstudie verstarben 8604 der Teilnehmerinnen. In Gegenden mit vielen Grünflächen sank das Risiko, an einer Atemwegerkrankung zu sterben, im Vergleich zu urbanen Regionen um 34 Prozent. Das Krebsrisiko nahm um bis zu 13 Prozent ab. Die durchschnittliche Sterbensrate verringerte sich um ganze 12 Prozent.“ (Biorama)
James hält – wie zahlreiche weitere ForscherInnen – fest, es habe „kognitive Vorteile und einen stärkenden Effekt, sich in der Natur aufzuhalten“ (ebd.). Vielleicht wurde in Japan nicht nur deshalb das sogenannte „Waldbaden“ populär: „In Outdoor-Kliniken kann man sich nach der üblichen Voruntersuchung zum ‚Baden‘ in den Wald begeben. Damit ist nicht etwa ein Wasserbad, sondern ‚shinrin yoku‘ – das Eintauchen in die Waldumgebung – gemeint. Zahlreiche wissenschaftliche Studien haben sich mit den positiven Wirkungen von ‚shinrin yoku‘ auseinandergesetzt und bestätigen deren stressreduzierende Wirkung. Zudem sinken beim Waldbaden Blutdruck, Puls, Blutzuckerspiegel.“ (Ebd.)
Sämtliche weitere einschlägige Studienergebnisse zeigen, dass es empfehlenswert ist, den ökotherapeutischen Ansatz mit seinem Fokus auf der Heilung des Individuums durch die Beziehungen zwischen Mensch und Erde in psychotherapeutische Interventionen einzubeziehen, was in meiner Praxis nach Möglichkeit und auf Wunsch auch geschieht.
Schließlich und um die Relevanz des „Frei-Seins“ in der Natur zu untermauern, sei einmal mehr auf Weber verwiesen, der eine deutsche Studie aus dem Jahr 1990 betrachtet, im Rahmen derer noch „fast drei Viertel der befragten Kinder zwischen sechs und 13 Jahren an[geben], sich täglich im Freien herumzutreiben – 2003 waren es schon weniger als die Hälfte. Von 1000 in Großbritannien befragten Sieben- bis Zwölfjährigen antworteten mehr als 50 Prozent, dass es ihnen verboten ist, ohne Aufsicht auf einen Baum zu klettern oder im Park um die Ecke zu spielen. Wie viele Kinder ohne Aufsicht im Internet surfen dürfen, erfragte die Studie nicht.“ (GEO)
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Sollte dieser Artikel Ihr Interesse an Ökotherapie geweckt haben, freue ich mich über Ihren Besuch im Heilraum Natur.